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Channel: Andreas Spinrath
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Auf der Durchreise: 97 Betten

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Das Aufwachen im eigenen Zimmer kann eine komische Erfahrung sein. Kein “Wo bin ich?”, kein “Wann geht der Bus?”, kein “Wo kriege ich ein Frühstück?” – ganz einfach nur Aufwachen, das Radio anmachen und im Halbschlaf die Kaffeemaschine einschalten. Am Morgen von Tag 209 meiner Reise, nach 97 Betten war ich zuhause.

0154_blog_wdr_spinrath_200.jpgMünchen war meine erste deutsche Stadt gewesen, nach sieben Monaten in Asien, Afrika, dem Nahen Osten und Osteuropa. Auf der Zugfahrt in Richtung Nordrhein-Westfalen dachte ich darüber nach, was ich wohl in der Heimat verpasst hatte. Im Grunde nichts, oder? Das weltumspannende Internet hatte verhindert, dass ich von den Nachrichten aus Deutschland und Europa abgetrennt wurde. Ich hatte eine Ahnung und eine Meinung in der Affäre um Guttenberg, wusste von den Demonstrationen gegen “Stuttgart 21″ und hatte die obskurste Bundesliga-Saison aus der Ferne beobachtet. Weltreisen ist heutzutage nur noch “Weg-Sein” und nicht “Abgeschnitten-Sein”. Die Tagesschau kann man sich selbst in ostafrikanischen Dörfern auf den Rechner holen, die ermüdende Suche nach deutschen Zeitungen entfällt dank Spiegel Online oder sueddeutsche.de und über Facebook und Skype wird man im Kurzzeit-Exil über das Privatleben des Freundes- und Bekanntenkreises auf dem Laufenden gehalten.

Obwohl ich mich deshalb also nicht fremd im eigenen Land fühlte, machte ich trotzdem eine Liste von Dingen, die man in einer E-Mail oder einem ruckelnden Videochat nicht unterbringen kann: die freundliche Dame im Kiosk um die Ecke, von Freunden zum Essen eingeladen werden, Schallplattenknistern, die Tücken der 1live.de-Redaktionssoftware, der Kassler-Auflauf meines Mitbewohners (der am Aschermittwoch – siehe Bild – natürlich nicht fehlen durfte).

Es gab viel Nachzuholen: In Essen besuchte ich mein Patenkind, von dessen Geburt ich während einer sternenklaren Nacht in der Wüste erfahren hatte. Im Borussia-Park feierte ich am Karnevalssamstag kostümiert den zweiten Heimsieg der Saison. In Köln feierte ich bis in die frühen Morgenstunden auf einer Geburtstagsparty.

0155_blog_wdr_spinrath_400.jpgEs erschien ganz schön unwirklich, wieder angekommen zu sein. Nach 209 Tagen oder 83 Taxifahrten durch 102 Städte in 7 Zeitzonen. Nach 173 Menschen, die mit mir in 22 Ländern in einem Zimmer geschlafen und mir beim Schreiben von 126 Postkarten zugesehen hatten. Nach 22 Währungen mit denen ich und meine 54 kurz- oder langfristigen Reisebegleiter 95 Busfahrten bezahlt hatten. Nach 28 Sprachen, 1 Mittelohrentzündung und 3 freundlichen sudanesischen Sicherheitskräften, die sich unbedingt mit mir fotografieren lassen wollten.

Sicher, die Welt hat mich verändert. Ich erwische mich dabei, neue Reisepläne zu spinnen: Syrien und den Libanon würde ich gerne nachholen, ein Roadtrip durch die Ukraine und was ist eigentlich mit Südamerika oder Westafrika? Erst einmal aber bleibe ich hier. In meiner Wohnung, in meiner Stadt, in meinem Bett. Nummer 97. Zuhause.

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Auf der Durchreise
Manchmal muss man etwas Neues wagen. Einfach die Sachen packen, sein Zimmer untervermieten, in der Uni ein Urlaubssemester nehmen und in den nächsten Flieger springen: 1LIVE-Reporter Andreas Spinrath war monatelang auf der Suche nach spannenden Menschen, Orten und Geschichten in der Welt unterwegs – und immer auf der Durchreise. Erlebnisse zwischen Kalkutta, Kairo und Köln.
Ein Projekt von WDR 1LIVE


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