Es ist 2011. Für mich. Für Muslime ist es 1432, für Juden 5771, Chinesen sind derzeit im Jahr des Metall-Hasen (78. Zyklus) und der in meinen Augen grundsätzlich nur aus einer Aneinanderreihung von Apokalypsen bestehende Maya-Kalender spuckt für den heutigen Tag “0 Pictun 12 Baktun 19 Katun 18 Tun 2 Uinal 5 Kin (5 Chicchan; 18 Pax) ” aus – was ganz sicher in etwa “kurz vor dem Exodus der Menschheit und damit einhergehenden Höllenfeuern, Meteoriteneinschlägen und schlechten Roland-Emmerich-Blockbustern” bedeutet. Einigen wir uns zur Vereinfachung darauf, dass heute – am Tag der Verfassung dieses Textes wohlgemerkt – Dienstag ist.
Die Welt ist wirklich kompliziert. All die verschiedenen Kalender sind ja nur der Anfang. Viel direkter betreffen Reisende die andauernden Zeitzonenwechsel. Der Unterschied zwischen Köln und Hong Kong, dem Startpunkt meiner Reise, waren gewaltige 7 Stunden. Diese Differenz verkleinerte sich mit Voranschreiten der Monate. Immer wieder musste ich meine Armbanduhr umstellen, die Armbanduhr, die ich vorher nie getragen hatte und die jetzt wegen all der Sonnenstunden einen peinlichen und unmodischen Streifen an meinem linken Handgelenk hinterließ. In Südostasien änderte es sich auf 6 Stunden, in Indien musste ich nur 3,5 Stunden auf die deutsche Zeit addieren. Afrika, der Nahe Osten und der Kaukasus pendelten sich irgendwo zwischen +1 und +3 ein. In Äthiopien wurde die Berechnung zusätzlich erschwert, denn dort bezeichnet man 6:00 Uhr morgens als 12:00 Uhr, was besonders bei der Bestimmung von Busabfahrten zu erheblicher Konfusion führte.
Im Grunde ist der Zeitunterschied zu Deutschland im Laufe einer Reise ja mehr oder weniger egal. Manchmal fällt einem jedoch auf, dass für die Leute daheim die Sonne später aufgeht als für einen selbst. Auf Geburtstagsgrüße in Jerusalem musste ich ungewohnt lange warten, Anrufe bei den Eltern können diese manchmal aus dem wohlverdienten Tiefschlaf reißen, Silvester in Amman feierte ich früher als die Menschenmassen vor dem Brandenburger Tor und in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi verlebte ich wegen der strengen Regularien der ARD-Mediathek qualvolle Stunden: den Tatort kann man sich wegen der jugendgefährdenden Ballerei und schockierender Pathologie-Innenansichten in der Wiederholung immer nur ab 20 Uhr abends ansehen – 20 Uhr abends deutscher Zeit, was in Vietnam, ähm, ganz schön spät ist. Meine Gedanken sind bei all denen, die irgendwo am Ende der Welt auf die flapsigen Sprüche ihrer Sonntagabendkommissare warten und sich deshalb mit literweise Kaffee die Nächte um die Ohren schlagen.
Doch dann kam Belgrad. Mit dem Grenzübertritt nach Serbien stellte sich plötzlich wieder alles auf Null. Ich wachte nach der bequemen Fahrt im Nachtzug aus Bulgarien mitten in einer der explosivsten Partymetropolen Osteuropas auf (Turbofolk! Turbofolk!), spürte die stundenlange Fahrt auf den Zähnen und in den Knochen und hatte noch keinen Schimmer, wo ich die nächste Nacht verbringen würde, aber: Es gab keine Zeitverschiebung mehr. Auf einmal war ich nicht mehr nur auf dem europäischen Kontinent, sondern sogar in meiner Heimatzeitzone, was jetzt vielleicht sentimentaler und aufregender klingt, als es tatsächlich ist.
Umrechnen muss ich im Übrigen immer noch. Die Reisestrapazen haben an meiner Armbanduhr Spuren hinterlassen. Ich kann sie seit Istanbul nicht mehr stellen und muss nun immer eine Stunde abziehen. Ein Grund mehr sich ihrer bald wieder zu entledigen und meine hoffentlich noch lang anhaltende Sommerbräune mit einem käseweißen Streifen am Handgelenk in Szene zu setzen.
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Auf der Durchreise
Manchmal muss man etwas Neues wagen. Einfach die Sachen packen, sein Zimmer untervermieten, in der Uni ein Urlaubssemester nehmen und in den nächsten Flieger springen: 1LIVE-Reporter Andreas Spinrath war monatelang auf der Suche nach spannenden Menschen, Orten und Geschichten in der Welt unterwegs – und immer auf der Durchreise. Erlebnisse zwischen Kalkutta, Kairo und Köln.
Ein Projekt von WDR 1LIVE