Eine Annäherung an Syrien
“Es tut weh. Ich habe solches Heimweh.” Vor zehn Tagen ist Khalid* nach Beirut gekommen. Khalid ist 38, Syrer, und ein Flüchtling, auch wenn er selber sagt, dass er gerade „auf Reisen“ sei. An diesem warmen Septembertag sitzt er in einem Krankenpflegerkittel auf einem Balkon unweit des Hafens der libanesischen Hauptstadt und erzählt von seiner Heimat. Einer Heimat, die es so nicht mehr gibt.
Khalid kommt aus den kurdischen Gebieten unweit der umkämpften syrischen Handelsmetropole Aleppo und schaffte es über Damaskus in den Libanon. Er will nicht über Politik reden, er sagt, dass er weder für noch gegen Assad sei. Als Khalid seine Arbeit als Pfleger in einer privaten Klinik für Herzoperationen verlor, die wegen der Kämpfe schließen musste, sah er für sich keine Zukunft mehr. Schon vor dem Krieg habe er es sich nicht leisten können, zu heiraten und nun konnte er auch seinen 90-jährigen Vater und dessen zwei Ehefrauen nicht mehr unterstützen.
Khalid ist einer von Hunderttausenden, die im syrischen Bürgerkrieg zwischen die Fronten geraten sind. Auf der einen Seite ein bis an die Zähne bewaffneter Diktator und seine Truppen, auf der anderen die in viele Gruppen zersplitterten Rebellen, die sich mal mit mehr und mal mit weniger Grund Freie Syrische Armee nennen. Und zwischen den unübersichtlichen Fronten die Bevölkerung Syriens, die Tag für Tag von Kugeln, Bomben oder Granaten getroffen wird, wenn sie beim Bäcker ansteht oder Wasser zum Kochen holt. Jeder Tag kostet unschuldige Leben von Kindern, Frauen und Männer.
Doch wie will man dieses Leid begreifbar machen? Wie nähert man sich dieser Hölle? Ein erster Schritt ist eine Reise rund um Syrien, einer Reise zu den Nachbarn der Hölle. Die Reise beginnt in Beirut – dem Zentrum des konfessionell tief gespaltenen Libanon. Hier in Beirut mit seinen christlichen wie muslimischen Vierteln macht sich vielleicht am meisten bemerkbar, dass ein Großteil der Bevölkerung Angst davor hat, in den syrischen Konflikt hineingezogen zu werden. Der von 1975 bis 1990 dauernde Bürgerkrieg hat großen Einfluss auf die Stimmung des Landes – und doch fragen sich viele, wie lange der Frieden im Libanon noch andauern wird. Es ist September und nur wenige Wochen nach dem Treffen mit Khalid wird dieser Frieden tatsächlich ein jähes Ende finden, es wird eine Bombe im christlichen Stadtviertel Ashrafiyeh detonieren und den Assad-Gegner und Geheimdienstchef Willam Al-Hassan und sieben weitere Menschen töten, Dutzende verletzen. Danach wird es auch im Libanon zu Schießereien kommen, die Lage wird sich zuspitzen. Doch an dem Tag, als Khalid seine Geschichte erzählt, ist diese Entwicklung noch ungewiss.
Die Annäherung geht weiter: Nach weniger als zwei Stunden Fahrt entlang der Mittelmeerküste, vorbei an antiken Häfen der Phönizier und selbst im Frühherbst schneebedeckten Berggipfeln, erreicht man von Beirut aus das nordlibanesische Tripolis. In den Vororten geht der syrische Bürgerkrieg im Exil weiter – Flüchtlinge, die für Assad sind schießen auf Flüchtlinge, die gegen Assad sind. In einem Möbelgeschäft irgendwo in den verwinkelten Gassen des Basars erzählen zwei Männer fast schon beiläufig bei einer Cola davon, wie sie zwei Tage zuvor Alewiten, also Anhänger Assads, aus einem Viertel am Stadtrand vertrieben hätten. Einer von beiden ist Hasan, ein Mann groß wie ein Baum, einem dichten Bart und riesigen Händen, die libanesische Version von Bud Spencer. Er sieht es aus wie jemand, der eigentlich niemandem etwas zu Leide tun kann, doch sein durchdringender, trauriger Blick wirkt einschüchternd. Hasan antwortet nicht gerne auf Fragen. Ob er einen der Alewiten getötet habe? Das wolle er nicht sagen, aber alle hätten es wahrscheinlich nicht geschafft.
In der ehemals prächtigen Altstadt geht das Leben derweil zumindest oberflächlich seinen normalen Gang. Alte Männer spielen am Al-Tell-Platz im Schatten des eindrucksvollen Uhrturms Backgammon und fluchen zwischen zwei Gläsern Tee über “die Scheiße da drüben in Syrien.” Spätestens am späten Abend ist es mit der Normalität vorbei. Weil sich die Rebellen im Schutze der Dunkelheit hinter die syrisch-libanesische Grenze zurückziehen, wird das Grenzgebiet regelmäßig von Assads Luftwaffe bombardiert. Tripolis ist kaum 30 Kilometer entfernt, die Detonationen sind spürbar. Die Stimmung im Norden des Libanon ist bedrohlich und merkwürdig zugleich: Es ist nur schwer zu begreifen, dass die Männer nach einer Nacht wie dieser am nächsten Tag wieder nur fluchen und Tee trinken werden.
Vom sunnitischen Tripolis geht es durch die christlich geprägten Städte des westlichen Libanons zurück in die Metropole Beirut. Im Süden der Hauptstadt liegt der Verkehrsknotenpunkt Cola. Auf diesem unübersichtlichen Platz warteten vor der Gewalt in Syrien Minibusse mit dem Ziel Damaskus auf Fahrgäste. Auch heute ist es nicht schwer, für weniger als fünf Euro zumindest einen Platz in Richtung syrischer Grenze zu finden. Der altersschwache Motor des Busses heult in den Serpentinen des Libanon auf – dem das Land von Nord nach Süd durchziehenden Gebirgsmassivs, das dem Staat seinen Namen gibt. Von oben blickt man auf die grüne Beeka-Hochebene, dem fruchtbarsten Teil des Landes. Eingeschlossen wie eine Burg von den Gipfeln des Libanon im Westen und des Antilibanon im Osten ist die Ebene schon seit vielen Jahren ein Sammelbecken für arme Syrer. In schäbigen, verdreckten Zeltstädten campieren Großfamilien am Straßenrand und schuften für einen Hungerlohn auf den Obst- und Gemüsefeldern. Doch nun kommen auch noch zehntausende Flüchtlinge dazu.
Das Zentrum der Beeka-Hochebene ist Baalbek. Dort stehen Überreste beeindruckender Tempel, die die Römer, angetan vom Klima Baalbeks dort errichteten. Heute ist die Stadt das Zentrum der berüchtigten Hisbollah, der Partei Gottes. Auf der einen Seite schießt der kämpfende Arm der ehemals paramilitärischen Bewegung bis heute Raketen vom Südlibanon auf das Gebiet des verhassten Feindes Israel, auf der anderen ist sie zu einer politischen ernstzunehmenden Kraft im Land gewachsen. Derzeit sitzen 14 Hisbollah-Abgeordnete im libanesischen Parlament, sie stellt außerdem den Energieminister. Äußerlich gibt sich die Hisbollah karitativ; sie betreibt Schulen und sammelt mit allgegenwärtigen, parkuhrähnlichen Spendenboxen Geld für Bedürftige. Im Syrienkonflikt bezieht die Hisbollah klar Stellung: Die schiitische Organisation bekennt sich zu ihrem Verbündeten Assad, in Baalbek hängen viele großformatige Poster, die Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah mit dem syrischen Präsidenten zeigen. Würde das Assad-Regime fallen, so sind sich Experten einig, wäre es für den Iran schwer, die Hisbollah weiterhin mit Waffen und Geld zu versorgen. Syrien ist ihr überlebenswichtiger Korridor nach Teheran. So ist die Stadt im Beeka ein weiterer Mosaikstein des vielschichtigen und syrischen Bürgerkriegs. Und die pro-syrische Haltung in Baalbek ist Ausdruck der tiefen, innerstaatlichen Zerrissenheit des Libanon.
Mit dem Flugzeug sind es vom Libanon keine 400 Kilometer in ein weiteres wichtiges Grenzland Syriens: die Türkei. Man überfliegt den Krieg und landet in Gaziantep, einer Großstadt, in deren Umland die Auswirkungen des Konflikts überall zu spüren sind. Denn von Gaziantep sind es nur wenige Kilometer bis nach Kilis, der türkischen Grenzstadt. In Friedenszeiten war Kilis nur einen Zwischenstation in die syrische Handelsmetropole Aleppo. Doch heute ist die Weiterreise von gut 50 Kilometern für Touristen und Einheimische undenkbar. In Kilis ist Schluss – und Anfang. Denn in das Gebiet und das Flüchtlingslager rund um die Stadt haben sich Zehntausende gerettet. Die vielen Flüchtlinge teilen die Hoffnung auf Sicherheit und werden von den Türken mit gemischten Gefühlen aufgenommen. „Ich weiß ja, dass wir ihnen helfen müssen, doch sie nehmen uns die Arbeit weg. Auf dem Bau, auf den Feldern, überall sind sie. Und sie verlangen fast nichts.“, gibt ein Einwohner von Kilis zerknirscht zu, seinen Namen will er nicht nennen.
Die Syrer, die es hierher schaffen sind dennoch in relativer Sicherheit. Die Grenzstadt auf der anderen Seite, in Azaz, beherrscht die Freie Syrische Armee und verhindert so weitere Zwischenfälle, wie die Granaten, die im April mutmaßlich von Assads Truppen auf das Flüchtlingslager abgefeuert wurden. Diese Beschüsse gehen im östlicher gelegenen Akçakale jedoch unvermindert fort. Die syrische Armee feuerte in den letzten Wochen mehrfach auf ein neu errichtetes Flüchtlingslager in der Stadt und sorgte so für erhebliche Spannungen mit der Regierung in Ankara. Das türkische Militär schoss zurück und drohte mit weiteren Vergeltungsaktionen. Seitdem scheint auch in der Südosttürkei die Ausweitung des Krieges über die syrischen Grenzen hinaus nicht mehr unmöglich.
Khalid hätte auch hierher fliehen können. Die Türkei hat bisher mehr als 100.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen, der Libanon fast genauso viele. Doch Khalid ist Kurde und hat wenig Gutes über die Politik von Ministerpräsident Erdoğan zu sagen. Syrien ist umgeben von Staaten, die selber nicht frei von inneren Konflikten sind. Die tiefe Spaltung des Libanon, der wachsende Unmut der in Jordanien lebenden Palästinenser mit ihrem König, der vom Krieg gezeichnete Irak – und eben auch die nach Autonomie strebenden Kurden im Südosten der Türkei.
Dieser Willen zur Abspaltung vom türkischen Staat ist zunehmend zu spüren, wenn man tiefer in die kurdisch geprägten Gebiete reist. Im unwegsamen Gebirge an den Grenzen zum Irak und zum Iran führt die türkische Armee einen im Ausland wenig beachteten Kampf gegen jene, die die eine Seite Freiheitskämpfer und die andere Terroristen nennt. „Warum interessiert sich Deutschland nicht für uns?”, „Weshalb steht die PKK auf der Liste terroristischer Vereinigungen der EU?”, „Warum macht ihr so einen Wirbel um die Palästinenser aber nicht um uns Kurden?” Fragen wie diese stellen die Menschen in Diyarbakır oder Batman; und sie erwarten eigentlich keine Antwort. Hier rückt der Bürgerkrieg in Syrien in den Hintergrund. Vermutlich ganz unbewusst. Wer seine eigene Situation als bedrückend empfindet, wer sich ungerecht behandelt fühlt und von der Welt nicht beachtet, dem fehlt mitunter die Empathie und das Interesse, um hinüber ins Nachbarland zu schauen. Die Gespräche über die nur wenige Kilometer entfernte Gewalt verlaufen im kurdischen Teil der Türkei oft ähnlich: Ja, es ist schlimm, es ist der Horror. Aber. Aber. Aber. Hier ist es auch schlimm. Wir sind auch nicht frei. Keiner hilft uns.
Über Schotterpisten quält sich der Bus in Richtung irakisch-türkischer Grenze. Um zu erfahren, wie ein von jahrelangem Bürgerkrieg zerstörtes Land langsam wieder zu sich findet, geht die Reise weiter in einen der immer noch gefährlichsten Staaten der Erde. Kilometerlang stauen sich LKW auf der D430 vor dem Ibrahim-Khalil-Grenzübergang. Wochenlang warten die Fahrer mit ihrer Ware hier auf das Kommando zur Weiterfahrt, denn die Türkei blockiert den Aufbau des irakischen Nordens durch ewige Kontrollen und zahlreiche Beschränkungen die Ausfuhr von Gütern. In einer langen Kolonne schieben sich die Fahrzeuge langsam Richtung Grenze und von dort aus in den gesamten Irak. Der Norden des Landes ist sicher, er steht unter der Kontrolle der Kurdischen Autonomiebehörde. Hier ist Kurdistan. Und dieses Kurdistan ist der türkischen Regierung ein Dorn im Auge, denn es dient als leuchtendes Vorbild für zusammengenommen etwa 25 Millionen Kurden in der Türkei, im Iran oder in Syrien. Hier vergibt man eigene Visa an Touristen, es gibt kurdische Sicherheitskräfte und eine Flagge mit der strahlenden Sonne in der Mitte: „The other Iraq” wie die geschätzt 6,5 Millionen kurdischen Iraker über sich selbst sagen.
Der Irak könnte ein Ausblick auf die Zukunft von Syrien sein: Ein Splitterstaat. Sollten sich die Bürgerkriegs-Fraktionen noch auf Jahre hinaus bekriegen, könnte Assads Clan zumindest die Kontrolle über den Nordwesten des Landes, sein Stammland, behalten. Erste Auseinandersetzungen zwischen kurdischen Separatisten und Rebellen in Aleppo lassen vermuten, dass Syrien noch unübersichtlicher, länger, blutiger und vor allem unbefriedbarer werden könnte. Im Irak ist dies bereits Realität: Während sich Schiiten und Sunniten vor allem im arabisch dominierten Süden bekriegen, Selbstmordattentate in Bagdad oder Basra zahlreiche Opfer fordern und von einem funktionierenden Staatswesen nur im Ansatz gesprochen werden kann, ist die autonome Region Kurdistan zu einer Insel der Sicherheit geworden. Jahrzehntelang waren die Kurden im Norden von Saddam Hussein terrorisiert worden, viele Millionen flohen aus dem Land. Überall zeigt sich der Fortschritt. Der Optimismus der Bevölkerung ist enorm. In Dohuk, Sulaymaniyah oder Arbil fühlt man sich mancherorts an Dubai erinnert. Serdar hat mehr als zehn Jahre in Mannheim gelebt und als ungelernte Arbeitskraft bei BASF Kisten gepackt und mit dem Gabelstapler LKW beladen. Seit einem Jahr ist er zurück in Sulaymaniyah und arbeitet dort an der Rezeption eines Hotels. „Hier sind meine Erfahrungen ein Vorteil. In Deutschland wurde mir immer gesagt, dass ich keinen Schulabschluss habe, hier ist das egal. Ich verdiene viel besser als in Mannheim.” In Serdars Hotel im Herzen der Stadt arbeiten ansonsten ausschließlich junge Männer aus dem Süden des Iraks. Wie viele aus anderen Regionen des Landes folgen sie dem Ruf des Geldes.
Es ist Wochenende und die Hotels in Kurdistans Regierungssitz Arbil sind voll. Familien aus Bagdad, Mosul oder Kirkuk verbringen ihre Freizeit im Norden. Sie machen Urlaub vom Krieg, können hier ohne Gefahr ins Restaurant oder den Park gehen, die Straßen sind auch nach Mitternacht sicher. Immer mehr Exil-Kurden kommen zumindest für ein paar Wochen oder Monate zurück und verbringen ihre Ferien in der alten Heimat. Die Nachfrage nach bezahlbaren Unterkünften ist riesig. Schon für ein kleines, runtergekommenes Zimmer zahlt man in Arbils geschäftigem Basar-Viertel mehr als 30 Dollar, in der Türkei bekäme man es für ein Drittel.
Und doch ist es immer noch der Irak. Reist man von Stadt zu Stadt muss vorher akribisch abgeklärt werden, welche Route der Fahrer wählt. Führt diese Straße durch einen gefährlichen Vorort? Wo sind hier Checkpoints der irakischen Armee? Gab es in den letzten Tagen Anschläge? Einige Städte werden von Kurden und Arabern gleichermaßen beansprucht, hier teilen sich verschiedene Fraktionen die Macht. Die Bewohner Kurdistans begegnen der Gefahrenlage zynisch: „Geh auf keinen Fall nach Mosul. Dort hast du als Westler vielleicht zwölf Stunden bevor du gekidnappt wirst.”, rät ein iranischer Kurde, der in der Innenstadt von Sulaymaniyah Softeis verkauft und mit Inbrunst auf das Regime in Teheran schimpft. „Wenn man Arabisch spricht, sollte man eigentlich ohne Probleme zwei, drei Tage überleben können.”, behauptet ein ehemaliger Übersetzer der US-Armee in Dohuk, der immer noch stolz seine amerikanische Uniform trägt. Ist das auch die Zukunft Syriens? Ein Flickenteppich von Städten und Gebieten mit unterschiedlichen Machthabern, ein Land, das sich von innen zerfleischt? Anschläge, Entführungen, Racheakte?
Khalid ist klar, dass es so kommen wird, dass seine Flucht ein Abschied für viele Jahre gewesen ist. Er sucht seine Chancen im Ausland, auch wenn er so gerne in seiner Heimat geblieben wäre. Wie auch immer der Krieg ausgeht, wann auch immer er endet – Khalid und viele Millionen seiner Landsleute sind tagtäglich die Leidtragenden eines Konflikts, der längst Auswirkungen auf seine Nachbarn hat. Die Annäherung an die Hölle von Syrien hat in Kurdistan ein Ende.
Für Khalid geht es jetzt erst richtig los. Am Flughafen von Beirut besteigt er eine Maschine, die ihn nach Kairo bringt. Er will weiter – vielleicht nach Italien oder nach Deutschland, wo er Verwandtschaft hat. Er verabschiedet sich ein letztes Mal. Khalid bleibt weiter „auf Reisen.“
*Name geändert